01/12/2025 0 Kommentare
Zwischen Krippe und Kreuz
Zwischen Krippe und Kreuz
# Impulse

Zwischen Krippe und Kreuz
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Die letzte Skulptur des Künstlers Michelangelo! Was ist zu sehen? In der Mitte, im Vordergrund der tote Jesus. Der verdrehte linke Arm könnte ein Hinweis auf seine Folterqualen sein. An seiner linken Seite (vom Betrachter aus rechts) hält seine Mutter Maria ihn in den Armen. An seiner rechten Seite fasst ihn Maria Magdalena am Oberschenkel. Hinter Jesus steht ein Mann im Kapuzenmantel. Bei genauem Hinsehen trägt er Züge des Künstlers. Viel spricht dafür, dass Michelangelo die Skulptur als sein eigenes Grabmal konzipiert hat. Mehrheitlich wird der Mann als Nikodemus aus dem Johannesevangelium identifiziert. Eine andere Möglichkeit besteht darin, in ihm Joseph von Arimathäazu sehen, der ebenfalls bei der Kreuzabnahme zugegen war und Jesu Grab gekauft hatte. Uneindeutig wie die Figur ist auch die gesamte Szene. Handelt es sich um die Kreuzabnahme? Oder ist es eine erweiterte Darstellung der Beweinung Jesu durch seine Mutter? Letzteres wird im engeren Sinn als Pietà bezeichnet. Oder ist es die Grablegung? Vielleicht ist es ja alles zusammen – so wie es auch Gemälde gibt, in denen mehrere Szenen gleichzeitig eine ganze Geschichte erzählen. Wenn man die Skulptur umrundet, lassen sich in der Tat Aspekte aller drei Szenen erkennen: Kreuzabnahme – Beweinung – Grablegung.
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Für die Abnahme vom Kreuz braucht es Stärke und Behutsamkeit zugleich. Der gemarterte Körper erfährt die Zärtlichkeit, die ihm verwehrt war. Alle drei Personen wirken hier zusammen, ein gemeinsamer Liebesdienst. Ernst und gesammelt sind ihre Mienen; Jesu Gesichtszüge sind sanft geworden. Es ist vollbracht. Hier liegt das Hauptaugenmerk auf dem hinter Jesus stehenden Mann. Ikonographisch entspricht er nicht unbedingt dem Joseph von Arimathäa, aber seine Rolle ist klar: als der Kräftigste von allen sorgt er dafür, dass Jesu Leichnam in Zuwendung und Respekt vom Kreuz zur Erde gelassen werden kann. Dafür übernimmt er die Verantwortung.
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Die ganze Szene strahlt bei aller Traurigkeit wenig von jener Verzweiflung aus, die in so vielen Darstellungen hervortritt, in denen Maria allein ihren toten Sohn in den Armen hält und beweint. Der Schmerz scheint verhalten. Vielleicht ist er auch bei ihr noch gar nicht ganz angekommen. Ansatzweise erst spiegelt er sich in ihrem Gesicht. Als Betrachtende ahnen wir schon, was ihr bevorsteht. Der Tod des eigenen Kindes gehört zu den schlimmsten Erfahrungen, die Menschen machen.
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Und nun ist etwas zu tun, man muss sich kümmern um den Körper des Gestorbenen. Der Blick wandert zu Maria Magdalena. Sie ist die kleinste der Figuren. Ihr Blick ist eigentümlich distanziert. Wo sind ihre Gedanken und Gefühle? Viel ist hineininterpretiert worden in ihre Beziehung zu Jesus, der seinen Arm um sie legt. Manche halten sie für seine Geliebte, doch das ist wohl Spekulation. Wie die beiden anderen aber flieht sie nicht vor dem grausigen Geschehen und geleitet den Leichnam zu seiner letzten Ruhe. Wird der Mann im Hintergrund nun zu Nikodemus? Mit ihm hatte Jesus zu Beginn des Johannesevangeliums ein theologisches Nachtgespräch geführt. Am Ende des Evangeliums taucht Nikodemus im Rahmen der Kreuzabnahme und Beisetzung Jesu wieder auf und bringt die für die Einbalsamierung nötigen Kräuter und Salben mit. So können nun alle drei, die so unterschiedlich mit Jesus verbunden sind, ein letztes gutes Werk an dem Verstorbenen tun.
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Kreuzabnahme – Beweinung – Grablegung zum 1. Advent? Ja. Unter dem Wort „Siehe dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer.“ (Sach 9,8). Ja, weil wir diesen König, dessen Leben in einer Futterkrippe beginnt, nicht ohne sein Ende erwarten und uns auf ihn freuen können. Das Kind in der Krippe wird zum Mann am Kreuz. Und schließlich zum Auferstandenen. Dahinter kommen wir nicht zurück. Gott sei Dank.
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