Wer liest hat einen eigenen Kopf

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# Impulse

Wer liest hat einen eigenen Kopf

Gedanken über das Lesen

1

Was für eine Ruhe geht von dieser Figur aus. Sie sitzt auf einem Stuhl, die Hände liegen auf der Sitzfläche, der Kopf ist leicht vorgebeugt. Auf den Oberschenkeln der Figur liegt ein geöffnetes Buch. Der Klosterschüler liest, vielleicht in der Heiligen Schrift. Er ist, im schönen Sinn des Wortes, in sich versunken. Zugleich ist er nicht bei sich, sondern bei dem, was er im Buch liest. Er hat seine alltägliche Welt verlassen und bewegt sich in einer anderen Welt, in der Welt des Buches. Der Lesende geht weg, geht aus sich heraus, um dann wieder zu sich zu kommen. Vielleicht verändert. Oder als ein ganz anderer.

Wer liest, bleibt nicht er selber. Wer liest, denkt weiter und vielleicht auch mal anders. Er fürchtet sich nicht vor Veränderung. Wer liest, will sein Denken erweitern oder verändern.

2

Lesende sind gefährlich. In vielen Diktaturen werden Bücher verboten. Man tut dann so, als habe es diese Bücher nie gegeben. Oder: Neue Bücher dürfen nicht erscheinen. Zunächst müssen sie durch die Zensur; dann kann es sein, dass sie nicht gedruckt werden dürfen. Die Herrschenden fürchten Gedanken, die anders sind als die ihren. Bücher sind eine Gefahr. Auch in unserer deutschen Geschichte gab es einmal Zeiten in denen Bücher verbrannt wurden.

Auch die Figur des „Lesenden Klosterschülers“ war einmal eine Gefahr für Herrschende. Ernst Barlachs Kunstwerke galten in der Zeit des Nationalsozialismus (1933–1945) als sogenannte „entartete Kunst“. Den Nazis gefiel nicht, was Barlach gestaltete. Es galt nicht als „Volkskunst“, was immer das sein soll.

3

In der Literatur nach dem 2. Weltkrieg spielt der „Lesende Klosterschüler“ eine wichtige Rolle. Der deutsche Schriftsteller Alfred Andersch macht diese Plastik 1957 zur Hauptfigur seines Romans „Sansibar oder der letzte Grund“ (verfilmt 1987). 

In einem Dorf an der Ostsee treffen sich einige Personen, die über die See nach Schweden fliehen wollen. Dazu kommt der Pfarrer des Ortes, der die Figur des „Lesenden Klosterschülers“ außer Landes schaffen möchte, bevor die Nazis sie aus der Kirche holen und möglicherweise verbrennen. Ein Fischer, der sein Boot zur Verfügung stellen soll, weigert sich lange Zeit. Als dann die Gefahr für die Flüchtenden und die Barlach-Figur immer größer wird, erklärt er sich doch bereit und bringt alle außer Landes. Sein Bootsjunge und Helfer träumt derweil davon, gleich weiter bis Sansibar zu reisen.

4

Lesende sind gefährlich für Herrschende, die gerne nur ihre eigene Meinung zum Maßstab machen. Was ist in Russland, um nur ein Beispiel zu nennen, nicht alles verboten worden in den letzten drei Jahren seit dem Überfall auf die Ukraine. Für nachdenkliche Menschen wurde und wird die Luft immer dünner. Viele von ihnen flohen und leben jetzt fern der Heimat – dafür in hoffentlich freierer Luft. In manchen Länder war und ist bis heute der Besitz und das Lesen der Heiligen Schrift verboten. Sie wird dann im Untergrund gelesen. Oder Menschen wissen einige Abschnitte der Bibel auswendig und tragen sie leise vor. 

Wer liest, kann zweifeln. Und fürchtet den Zweifel nicht. Wer liest, kann sich ändern. Wer liest, behält seinen eigenen Kopf.

5

Der Klosterschüler liest in einem Buch, vielleicht in der Heiligen Schrift. Er ist wie in sich versunken. Es wird heute nicht mehr so viele Menschen geben, die wie versunken in der Heiligen Schrift lesen. Die Bibel wird immer mehr zum unbekannten Buch. Einzelne Geschichten und Sätze aus der Bibel mögen manchen noch vertraut sein, aber viele Zusammenhänge fehlen. Das ist so. Es lohnt nicht, das lange zu bejammern.

Dagegen gibt es nur ein hilfreiches Mittel. Die, die ihre Bibel mögen, reden und erzählen davon. Leise, unaufdringlich. Mehr als Interesse wecken können wir nicht. Wer selber interessiert ist, kann bei anderen Interesse wecken. In vielen neuen gottesdienstlichen Formen können wir anderen Menschen Geschichten und Sätze aus der Bibel nahebringen, beziehungsweise: Wir können es versuchen. Und selber können wir auch in der Bibel lesen, vielleicht etwas mehr als zurzeit. 

Wer liest, hat einen eigenen Kopf, lässt sich nicht so leicht vereinnahmen, bleibt weltinteressiert und zweifelt auch. Wer liest, tut sich einen Gefallen. Und wer auch mal in der Bibel liest, betritt einen Raum, in dem Gott zuhause ist. 

Gott kommt denen nahe, die sich seinem Wort nähern.

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