Gedanken zu einem Stolperstein

Gedanken zu einem Stolperstein

Gedanken zu einem Stolperstein

# Impulse

Gedanken zu einem Stolperstein

1

Ich laufe durch die Straßen. Häuser ziehen an mir vorbei. Hinter ihren Fassaden liegen mir fremde Welten. Hinter jeder Tür liegen Erfahrungen, die ich selbst nicht gemacht habe. In den dazugehörigen Räumen wird gegessen und geschlafen. Es wird geträumt und befürchtet, geliebt und gestritten. Ich weiß nicht, was hinter den Fassaden passiert. Aber ich habe eine Ahnung, denn auch ich lebe hinter einer Fassade.

 

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Ich muss weiter. Vor mir liegen noch viele Gassen und Straßen. Wie viele Personen sind hier schon entlanggelaufen? Wie viele Augen haben bereits gesehen, was ich jetzt sehe? Heinrich Heine (1797–1856) hat einmal geschrieben, dass „hinter jedem Grabstein eine Weltgeschichte“ liegt. Das fällt mir wieder ein, wenn ich durch die Straßen laufe. Jedes Haus enthält solche Geschichten. Jeder Stein hat etwas zu erzählen.

Das Staunen darüber habe ich von meiner Mutter. Immer, wenn wir uns alte Gebäude ansahen oder in eine Kirche kamen, sagte sie: „Was würden diese Steine alles erzählen, wenn sie könnten?“ Ich habe das als Kind nicht verstanden. Was sollen Steine schon erzählen? Sie bleiben doch immer nur stumm. Sie glotzen alles an und sagen nichts. Heute weiß ich, dass meine Mutter nicht auf die Erinnerungen der Steine hoffte, sondern ihr eigenes Staunen äußerte. Und ihren Wunsch nach dem Wissen, was an diesen Orten schon alles geschehen ist. Ich teile diese Erfahrung und den Wunsch, durch die Augen der Steine erzählt zu bekommen, was sie gesehen haben; welche Tragödien und welches Glück sie beobachtet haben. Welche weltgeschichtlich bedeutsamen Entscheidungen wurden vor ihren Augen getroffen und welches Leid mussten sie mitansehen?

 

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Mein Blick fällt auf einen Stein. Er liegt direkt vor meinen Füßen. Das Licht reflektiert von seiner goldenen Oberfläche. Im Vorbeigehen versuche ich herauszufinden, um was es sich handelt. Da steht etwas drauf. Ich bleibe stehen, beuge mich hinunter und lese: Hier wohnte Karl Kovarik, geboren 1905, verhaftet 2.10.1943, wegen Wehrkraftzersetzung, er hatte einen Feindsender gehört, kam ins Gefängnis in Brandenburg wurde am 9.6.1944 vom Volksgerichtshof verurteilt und am 17.7.1944 hingerichtet. Dieser Stein erzählt eine ganze Weltgeschichte, später habe ich erfahren, es ist ein Stein für einen nichtjüdischen Bürger in Castrop Rauxel in der Lönsstraße. Ich weiß nicht, welche Träume Karl Kovarik hatte, ob er noch Pläne mit seiner Familie hatte . Ich weiß aber, dass ihm seine Hoffnungen am 17. Juli 1944 genommen wurden. Er konnte nicht alt und lebenssatt auf sein Leben zurückblicken, keine Träume in die Tat umsetzen. All das wurde ihm von Nationalsozialisten geraubt. Er wurde 39 Jahre alt.

 

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Mehr als einhunderttausend solcher Stolpersteine wurden in ganz Europa verlegt. Der Künstler Gunter Demnig hatte die Idee dazu. Diese Steine liegen oft in Wohnstraßen, in dicht besiedelten Gebieten auch hier in Castrop z.B. auf dem Marktplatz. Ich frage mich nun nicht mehr, was die Steine gesehen haben, sondern die Menschen, die hier gelebt haben. „Hier bin ich geboren und laufe durch die Straßen. Kenn die Gesichter, jedes Haus und jeden Laden“, singt Peter Fox in meinem Kopf. Wie kann ich nicht bemerken, wenn mein Nachbar von der Gestapo gewaltsam aus seiner Wohnung gezerrt wird und niemals wiederkommt? Wie kann ich nicht ahnen, dass das nur mit unrechten Dingen zugehen kann?

Gegen das Vergessen liegt der Stein vor mir. Der Künstler Gunter Demnig erzählt von seiner liebsten Definition der Stolpersteine. Sie stammt von einem Schüler, der von einem Reporter gefragt wurde: „Ja aber sag mal, ist das nicht gefährlich, Stolpersteine, da fällt man doch hin?“ „Nein, nein“, antwortete er, „man stolpert nicht und fällt hin, man stolpert mit dem Kopf und mit dem Herzen.“

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