
07/07/2025 0 Kommentare
Einige Sekunden Ewigkeit
Einige Sekunden Ewigkeit
# Impulse

Einige Sekunden Ewigkeit
Gedanken über Verzeihen und Versöhnen
1.
Es ist der 7. Dezember 1970, ein grauer Herbsttag. Willy Brandt, damaliger Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, befindet sich auf einer Reise nach Polen, der ersten Reise eines Bundeskanzlers in das Land, das am 01. September 1939 von Deutschland überfallen wurde. Das Land, in dem mehr als drei Millionen Juden durch die deutschen Besatzer getötet wurden.
Zum Protokoll eines solchen Besuches gehörte ein Besuch am Grabmal des unbekannten Soldaten. Doch Brandt äußerte den Wunsch, darüber hinaus das Ehrenmal am Ort des ehemaligen Warschauer Ghettos zu besuchen. Von 1940 bis 1943 wurden in diesem Teil der Warschauer Innenstadt Jüdinnen und Juden aus Warschau und aus anderen Teilen Polens unter unmenschlichen Bedingungen auf engstem Raum eingesperrt. Von dort wurden die meisten von ihnen in Vernichtungslager transportiert, wo sie getötet wurden. Nur wenige überlebten das Ghetto, so wie z.B. Marcel Reich-Ranicki. Im April 1943 kam es dort zu einem Aufstand, der im Mai von der SS brutal niedergeschlagen wurde. Es wurden mehrere zehntausend Menschen getötet. Das gesamte Viertel wurde zerstört und dem Erdboden gleich gemacht.
2.
Im Gedenken an die Opfer erbat Willy Brandt, an diesem Ort, am „Denkmal der Helden des Ghettos“, einen Kranz niederlegen zu können. Einige hundert Menschen waren zugegen, als er zu dem zuvor abgelegten Kranz hinzutrat, die Schleifen richtete, so dass der Text darauf sichtbar wurde. Brandt trat ein paar Schritte zurück und sank vor dem Denkmal auf die Knie, verschränkte die Hände und verharrte einen Augenblick. Niemand hatte mit dieser Geste gerechnet, auch nicht die Menschen, die ihn damals begleiteten wie der damalige Außenminister Walter Scheel, wie Egon Bahr, Staatssekretär im Bundeskanzleramt.
3.
Viel ist zu Willy Brandts Kniefall von Warschau gesagt und geschrieben worden. Die einen vermuteten eine geschickte Inszenierung. Andere hielten ihm vor, vor einer kommunistischen Regierung in die Knie gegangen zu sein. Brandt hatte aufgrund seiner Ostpolitik mit dem Ziel der Aussöhnung und dieser Geste viele Anfeindungen auszuhalten. Immer wieder hat er betont, dass er aus dem Moment heraus, in dem Bewusstsein der Last der Schuld, auf die Knie gesunken ist.
4.
Was hat Willy Brandt bewogen, mit einer solchen Geste angesichts der Schuld um Verzeihung zu bitten? Er war 1933 nach Norwegen emigriert und war darum an solchen Verbrechen nicht beteiligt gewesen. Es wurde ihm die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen und erst nach Ende des Krieges wieder zuerkannt. Was hat Willy Brandt mit diesem Hintergrund bewogen, vor dem Denkmal auf die Knie zu gehen?
Fast 20 Jahre später sagte er zu diesem Moment in einem Fernsehinterview: „Ich konnte nichts anderes tun, als ein Zeichen zu setzen. Ich bitte für mein Volk um Verzeihung – bete auch darum, dass man uns verzeihen möge.“ Der Kniefall Willy Brandts: Ein Zeichen der Bitte um Verzeihung und zugleich ein Zeichen für das Eingeständnis der Schuld. Brandt bittet stellvertretend für sein Volk um Verzeihung. Eine Geste, die Grenzen überwinden kann und überwindet.
5.
Stellvertretend und alle Menschen und alle Völker einschließend formuliert das Versöhnungsgebet von Coventry: „Alle“ – alle! – „haben gesündigt und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten.“ (Röm 3,23) Jede der sieben folgenden Bitten um Versöhnung unter den Menschen und den Völkern schließt mit dem Ruf: „Vater, vergib!“.
Es gibt Menschen, die zu wissen meinen, wie lange der Kniefall Willy Brandts gedauert hat, 15, vielleicht 30 Sekunden. Wie lange oder wie kurz dieser Moment auch gewesen sein mag, für mich sind dies Sekunden der Ewigkeit, Sekunden, in denen etwas den geplanten Ablauf durchbricht, in der erfahrbar wird, was wir so sehr brauchen: Barmherzigkeit und Versöhnung. Darum können wir nur bitten, Gott bitten, so wie Willy Brandt in Warschau, so wie mit den Worten des Versöhnungsgebets von Coventry: „Vater, vergib!“
In diesem Jahr jährt sich der Kniefall Brandts zum 55. Mal, nicht der einzige Grund und Anlass, dessen zu gedenken.
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