Das Wunder, ein Mensch zu werden

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Das Wunder, ein Mensch zu werden

Gedanken zu Apostelgeschichte 3,1-10

1

Wenn der Gelähmte im Tempel von Jerusalem diese Schrift sehen könnte – was würde er empfinden? Da er nur liegen und um Almosen bitten kann, sähe er jeden Tag auf diese Schrift an der Wand. Da steht: „eure Bewertungen tun so weh“. Dahinter ein womöglich etwas verunglücktes Herzzeichen. Was würde der Gelähmte denken, wenn er das liest?

Ich denke, er würde leise zustimmen. Morgens wird er von Freunden oder Familienmitgliedern ans Tempeltor getragen. Zu hause liegt er unnütz herum. Am Tempeltor ist er aber noch zu etwas zu gebrauchen. Er kann betteln und mit den Almosen zu seinem Lebensunterhalt beitragen. Er kann rufen: „Gebt mir etwas Geld.“ Vermutlich gehen viele Menschen täglich an ihm vorbei. Manche werden ihm Geld geben. Andere nehmen ihn gar nicht wahr aus lauter Eifer – oder sie schauen absichtlich und angestrengt an ihm vorbei. Manche Gesunde sehen nicht gerne auf Kranke.

2

Man muss gar nicht abwertend reden; man kann auch abwertend blicken. Man kann abwertend hinblicken und dabei denken: Was er wohl angerichtet hat, wie er sich wohl schuldig gemacht hat, dass er gelähmt ist? Man kann aber auch abwertend wegschauen, irgendwo anders hin – und zwar so, dass man das Wegschauen bemerkt. Jemand will nicht sehen, das Elend möglichst übersehen. 

Es gibt vielerlei Weise, einen Menschen abzuwerten: mit Worten, mit Blicken, mit Übersehen, mit Gleichgültigkeit. Wer es mal am eigenen Leib empfunden hat, wird den Gelähmten verstehen: eine Krankheit ist schlimm; die Bewertung ist noch schlimmer. Denn meistens ist die Bewertung eine Abwertung. Wie viele Bettler werden schon gehört haben: Geh doch arbeiten.

3

Die Jünger Petrus und Johannes, so scheint es, haben von Jesus gelernt. Sie haben keine Bewertung nötig – und wenn, eine freundliche. Sie wenden sich dem Gelähmten zu, als der sie um Almosen gebeten hatte. In Jerusalem gibt es seit einiger Zeit eine kleine christliche Gemeinde. Dennoch gehen Petrus und Johannes in den Tempel. Entweder wollen sie dort beten aus alter Tradition – sie sind ja schließlich Juden. Oder sie wollen Menschen für den christlichen Glauben gewinnen. Als sie um Almosen gebeten werden, bleiben sie stehen und vollbringen ein Wunder. So erzählt es der Evangelist Lukas. Ihm ist es wichtig, dass die Macht der Wunder nun bei den Aposteln ist, die ehemals Jünger genannt wurden. Was Jesus vermochte, vermögen nun die Apostel, erzählt uns Lukas. Und wir sollen das glauben.

Können wir das glauben? Dass die Apostel Gelähmte heilen, wie einst Jesus?

4

Das ist nicht wichtig. Vielleicht konnten sie Wunder tun. Vielleicht übertreibt Lukas aber auch. Eine wesentliche Rolle spielt das nicht für die Schönheit dieser Erzählung. Die Schönheit des Wunders ist nicht, dass der Gelähmte jetzt gehen kann, sondern dass er jetzt wertvoll ist. Er gehört dazu. Er ist nicht mehr der Gelähmte, der Kranke, der Unnütze – er ist jetzt einfach ein Mensch.

Petrus und Johannes vollbringen hier ein Wunder. Das ist wahr. Aber das Wunder ist nicht einfach die Heilung, sondern die neue Bewertung des Gelähmten. Er ist wieder wer. 

Kein Wunder ist, dass er sofort Gott lobt für alles, was ihm gerade widerfahren ist. Er ist nicht mehr der lebenslang Kranke. Zum ersten Mal in seinem Leben ist er zu dem Menschen geworden, als der er gedacht war.

5

Auch wir können Wunder tun, jeden Tag. Wir können Menschen als Menschen ansehen und bewerten, wie es auf dem Bild steht. Wir können andere aufwerten, indem wir sie nicht als Kranke, als Gegner, als Dumme, als Ausländer oder sonstwie „bewerten“, sondern in ihnen einfach Menschen sehen. Ganz gleich, wie sie mit uns umgehen – wir lassen es uns nicht nehmen, sie als Menschen zu sehen und sie so zu behandeln. Wir können andere vermutlich nicht von Krankheiten heilen. Von abwertenden Bemerkungen aber können wir sie heilen, indem wir die einfach sein lassen. Wir können und müssen nicht jedem Bettler etwas in die Dose werfen; wir dürfen ihn oder sie aber freundlich ansehen und alles Abwertende lassen.

Wir können Wunder tun. Dass ein anderer oder eine andere in unseren Augen einfach ein Mensch ist und bleibt, ist in Zeiten oft schlimmer Bewertungen ein Wunder. Dafür bedarf es keinerlei Zauberkräfte. Es bedarf nur meines Glaubens: der andere, die andere ist ein Mensch. Ein Mensch wie ich. Gott möge uns beide segnen.

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